Stand: 2012
Umwelt- und Verbraucherschutz: Antibiotika
Spätestens seit den 1990er Jahren ist die Öffentlichkeit für die Gefahren der Antibiotika-Behandlung sensibilisiert: Antibiotika-resistente Keime, Antibiotika als Wachstumbeschleuniger, "MRSA" in Krankenhäusern, nicht-therapierbare Infektionen etc. Das Problem ist bekannt – auch die Lösung?
Unter MRSA ('Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus', gleichbedeutend auch als ORSA bezeichnet) versteht man im engeren Sinne Staphylococcus aureus-Stämme, die gegen alle bisher marktverfügbaren ß-Lactam-Antibiotika (z. B. Penicillin) resistent sind. Sie sind allerdings in der Regel multiresistent, also widerstandsfähig meist auch gegen andere Antibiotikaklassen. MRSA besiedelt gesunde Wirte zunächst asymptomatisch, löst also keine Krankheitssymptome aus; besonders günstige Bedingungen oder ein schwaches Immunsystem aber fördern seine Ausbreitung und schwere Erkrankungen. Während in den skandinavischen Ländern der Anteil von MRSA unter den Staphylococcus-aureus-Stämmen gering ist und in den Niederlanden bei nur ca. 3% liegt, beträgt die MRSA-Rate im benachbarten Deutschland durchschnittlich (!) etwa 25% und in den südeuropäischen Ländern, den USA, Japan etc. sogar zwischen 30% und über 70%.
- Im Dezember 2011 schlug Nordrhein-Westfalens Umweltminister Remmel Alarm: Einer Studie zufolge wurden in 96% aller untersuchten Hähnchen Antibiotika nachgewiesen.
- Kurz darauf veröffentlichte der Bund Umwelt- und Naturschutz (BUND) einen Test: Bei jedem zweiten Geflügel aus Supermärkten waren ESBL-Keime gefunden worden (ESBL = 'Extended-Spectrum Beta-Lactamase' – ein Enzym, das ß-Lactam-haltige Antibiotika spalten kann). Auf zwei Proben waren MRSA-Keime nachgewiesen worden. Beim Menschen können (müssen nicht) solche Antibiotika-resistenten Keime schwere Krankheiten auslösen oder gar zum Tade führen.
- Bundesagrarministerin Aigner kündigte für Anfang 2012 jedoch nur einen Gesetzentwurf an, mit dem die Haltungsbedingungen in Hühnerställen verschärft werden sollen; ein Antibiotika-Verbot plant sie nicht.
Anwendungsproblematik
Antibiotika sind, klug angewendet, ein Segen für die Menschheit und die Medizin: Aufgrund der Entdeckung des Penicillins durch den schottischen Bakteriologen Alexander Fleming 1928 konnten schwerste Krankheiten wie bakterielle Lungenentzündung, Scharlach, Syphilis oder Wundstarrkrampf besiegt und Millionen von Leben gerettet werden. Der große Erfolg der Antibiotika führte allerdings bald zu ihrem unkritischen, ausufernden Einsatz:
- Einsatz ohne Indikation: Ein Beispiel für unkritische Verschreibungspraxis ist die Behandlung der akuten Bronchitis, also einer Entzündung der Bronchien-Schleimhaut, die sich durch Husten, Schnupfen, Halsweh und Abgeschlagenheit äußert und nur zu ca. fünf Prozent auf Bakterien zurückzuführen ist. Ganz überwiegend aber wird die akuten Bronchitis durch Viren verursacht, gegen die Antibiotika wirkungslos sind. Durch ihren häufigen unnötigen Einsatz bilden Bakterien schließlich Resistenzen gegen die Antibiotika, die dann bei realem Bedarf nicht mehr wirken. Sie sollten folglich nur eingesetzt werden, wenn sie eindeutig indiziert sind, etwa bei diagnostizierter Lungenentzündung oder Harnwegsinfektion.
- Unzureichender Abbau der Antibiotika im Körper: Dadurch gelangen ausgeschiedene Reste der Antibiotikareste ins Abwasser, wo sie geringerer, also weniger wirksamer Konzentration auf Bakterien treffen. Die überlebenden (selektierten) Bakterien bilden in den Abwasserkanälen und Kläranlagen Resistenzen aus.
- Unterdosierung: Antibiotika sind dann nachhaltig erfolgreich, wenn sie Bakterien vollständig vernichten; ist die Konzentration eines Antibiotikums zu gering oder wird die Therapie zu früh beendet, ist zwar symptomatisch oft zunächst eine Besserung des Erkrankten zu beobachten, die überlebenden Bakterien bilden aber Resistenzen aus und können das Krankheitsbild später wieder verschlechtern und sogar Resistenzgene an weitere Bakterien anderer infizierter Menschen weitergeben. Solch ein Genaustausch findet vor allem in Krankenhäusern statt, wo unterschiedliche Bakterienstämme leicht in Kontakt miteinander kommen können und von Bett zu Bett getragen werden, was die Bildung von Resistenzen fördert. Betroffen sind vor allem die chirurgischen Intensivstationen, Abteilungen für Brandverletzungen und Neugeborenenstationen.
- Prophylaxe, Metaphylaxe: Der prophylaktische (vorbeugende) Einsatz der Antibiotika fand und findet zwar kaum beim Menschen, jedoch in großem Umfang bei landwirtschaftlichen Nutztieren statt: Um die Verbreitung von Krankheitserregern – eine unweigerliche Folge der Massentierhaltung – von vornherein zu verhindern, wird nicht etwa die Massentierhaltung durch artgerechte Tierhaltung in kleineren Gruppen ersetzt, sondern durch Antibiotika erst profitabel möglich gemacht. Gesunde Tiere werden zu Tausenden mit Antibiotika "therapiert", damit sie nicht krank werden, und wenn einige wenige tatsächlich klinisch erkrankt sind, werden diese nicht aufwendig isoliert und therapiert, vielmehr bekommen metaphylaktisch alle Tiere des Bestandes Antibiotika, um eine mögliche oder wahrscheinliche Ausbreitung zu verhindern. Die Schlachtung darf allerdings erst nach einer Wartezeit erfolgen, in der das Tier die Antibiotika abgebaut hat; so soll die Übertragung resistenter Erreger aus rohen Eiern und ungenügend gebratenem Fleisch auf den Menschen sicher vermieden werden.
Die massenhafte Verabreichung der Antibiotika hat bei den einzelnen Tieren ganz unterschiedlich hohe Antibiotika-Aufnahmen zur Folge und deshalb schon aufgrund der erwähnten Unterdosierungen (s. o.) Resistenzen. Gefördert werden diese auch durch die Ausbringung von Gülle und in der Folge die Anreicherung resistenter Bakterien im Boden, von wo sie in die menschlichen Nahrungskette gelangen. Zwar haben europäische Länder den prophylaktischen Einsatz der Antibiotika offiziell eingeschränkt oder untersagt, die hohen Dunkelziffern unnötiger, illegaler Antibiotika-Gaben – auch unter dem Vorwand begründeten Verdachts – lassen jedoch an einer nachhaltigen Reduktion der Resistenzen zweifeln.
- Mastbeschleunigung: Eine geradezu pervertierte Nutzung eines so wertvollen Medikaments wie der Antibiotika ist ihr Einsatz als "Leistungsverstärker" bzw. "Mastbeschleuniger". Zwar ist sie seit 2006 EU-weit verboten, wird aber "schwarz" weiterhin praktiziert unter dem Vorwand, Infektionen zu bekämpfen – was aus Tierschutzgründen erlaubt ist.
Problemlösung
In der Humanmedizin läßt bzw. ließe sich die "tickende Zeitbombe" resistenter Bakterien aufgrund unwirksamer Antibiotika prinzipiell entschärfen, nämlich durch:
- verantwortungsvolle Verschreibung antibiotischer Medikamente ausschließlich für bakteriell verursachte Erkrankungen;
- verschreibungsgemäße Einnahme der verschriebenen Antibiotika, was Patienten Selbstdisziplin abverlangt;
- Eingangsuntersuchungen in den Kliniken, wie in den Niederlanden üblich;
- ständige Überwachung bzw. Analyse der Abwässer vor allem im Umfeld von Kliniken.
In der Nutztierhaltung und Veterinärmedizin könnten Politiker einen weitgehenden Antibiotika-Verzicht eigentlich noch einfacher durchsetzen, da Tiere keine selbstbestimmten Akteure sind. Voraussetzung wäre "nur" die Entschlossenheit, diesen Verzicht gegen die Landwirtschaftslobby durchzusetzen und die menschliche Gesundheit zu schützen. Aber wollen Politiker das? Welche sind sie üblichen Vorwände, mit denen der aktuell ausufernde Antibiotika-Einsatz gerne "begründet" wird – und wie lassen sie sich widerlegen?
- Das Tierschutzgesetz wird gerne als zwingender Grund für Behandlungen auch mit Antibiotika herangezogen, bestimmt es doch schon einleitend in § 1: "Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen." Dieses Argument wirkt allerdings alles andere als glaubhaft, wenn es von Landwirten vorgebracht wird, die Tiere in unnatürlich weil artwidrig großen Gruppen und auf viel zu kleinen Flächen halten, artwidrig ernähren oder auf tierschutzwidrige Weisen transportieren und schlachten, wie dies immer wieder filmisch dokumentiert wurde und wird. Wer mit der Aufzucht, Mast und Tötung von Tieren Geld verdient, setzt Antibiotika nicht zum Schutz der Tiere ein, sondern primär zum Schutz eigener wirtschaftlicher Interessen.
- Die Wirtschaftlichkeit wird als Argument gleich doppelt mißbraucht: Der Verzicht auf Antibiotika schmälere die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirte und sei ihnen daher nicht zuzumuten; artgerechte Haltungsformen würden der Fleischindustrie höhere Kosten und Endverbrauchern höhere Preise aufbürden, die sich einkommensschwache Kunden nicht leisten könnten. Qualität statt Quantität, d. h. wenig, aber gutes und gesundes Fleisch statt viel billig produziertes Fleisch, würde allerdings die Haushaltskasse weniger belasten, und die Bio-Landwirtschaft könnte ohne konventionelle Billig-Konkurrenz (die konsequent unterbunden werden müßte) preiswerter produzieren.
- Ein totales Verbot von Antibiotika für Tiere ließe sich mit keinem Tierschutzgesetz in Einklang bringen, das diesen Namen verdient: Warum sollte man einem Tier ein Medikament vorenthalten (dürfen), das sich beim Menschen bewährt hat? Wer ein Wildtier oder Haustier pflegt, tut dies in der Absicht, ihm ein artspezifisch langes Leben zu ermöglichen. Es muß daher auch bis zu seinem natürlichen Ende gepflegt werden; erlaubt ist nur die Einschläferung (Euthanasie) zur Verhinderung unnötiger Leiden, keine kommerziell begründete Tötung.
- Ein bedingtes Verbot allerdings läßt sich begründen: Wie im Falle des Menschen dürfen nur solche Individuen (z. B. Hühner) mit Antibiotika behandelt werden, die tatsächlich erkrankt sind – nicht aber ganze Gruppen bzw. Ställe; Gewinnmaximierung darf kein Grund sein für verantwortungslosen Antibiotika-Einsatz. Positiver und gewünschter Nebeneffekt: Die dadurch notwendige Quarantäne oder Tötung einzelner erkrankter Tiere würde die industrialisierte Landwirtschaft zwingen, die Massenhaltung einzuschränken oder ganz aufzugeben.
- Ein weiteres, aber nicht zwingendes bedingtes Verbot könnte allen Tieren eine Antibiotika-Behandlung vorenthalten, die später ohnehin geschlachtet werden sollen. Ein Zwang zur vorzeitigen Schlachtung kranker Tiere würde Landwirte unter zusätzlichen Druck setzen, ihre Tiere optimal zu halten.
- Einige Veterinäre sind durch allzu große "Kundenbindung" aufgefallen, einige handeln gar selbst mit Antibiotika, was Zweifel an einer indizierten Verschreibung begründet. Eine falsche Verschreibungspraxis läßt sich nur sicher ausschließen, wenn sie unter definierten, leicht überprüfbaren Bedingungen – etwa Massentierhaltung – gar nicht statthaft ist.
Politiker sollten den Mut aufbringen, der verlogenen Argumentation von Landwirten und ihren Lobbyisten entgegenzutreten und sich ausschließlich an zwei Kriterien orientieren: dem Tierwohl und der menschlichen Gesundheit. Gibt es nicht ein niederschmetterndes Bild einer Demokratie ab, wenn sich nicht einmal wirksame Maßnahmen gegen die "tickende Zeitbombe" der Antibiotika-Belastung durchsetzen lassen?
Falls am linken Bildschirm-Rand keine Verweisspalte zu sehen ist, klicken Sie bitte auf , um den gesamten Frameset anzuzeigen.